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Die Nächte waren oft kurz

Leben in einer Suderwicker Bäckerei nach dem 2. Weltkrieg

Verkaufsraum der Bäckerei in den 50er Jahren.
 

Auch in Suderwick und Dinxperlo hinterließ der Krieg eine Schneise der Verwüstung. Das Haus meiner Eltern und das der Großeltern wurde 1945 zerstört; das Backhaus überlebte mit einem großen Loch in der Wand. Die Bäckerei und Konditorei am Hellweg in Suderwick stand unmittelbar an der Grenze; die bis 1949 noch mit Stacheldrahtrollen gesichert war. Mein Vater musste sofort wieder Brot für beide Teile backen. Um allen gerecht zu werden und Streit zu vermeiden, öffnete er zwei Fensterflügel am Backhaus, vor denen sich Deutsche und Niederländer in getrennten Reihen anstellen mussten.

Im Frühjahr, kurze Zeit nach Kriegsende 1945 wurde der halbe Ort zum Niemandsland; die Bewohner mussten ihre Häuser verlassen. Die Bäckerei wurde von den stationierten Engländern genutzt. Vater mietete einen Betrieb in Bocholt und belieferte von dort seine Kunden (auch Geschäfte), so gut es ging. Die Familie war im Nachbarort untergebracht. Gegen Jahresende 1945 konnten die Bewohner zurück in ihre Häuser. Ab dann „durfte“ Vater dann nachts in seiner Bäckerei am Hellweg backen, tagsüber war er in Bocholt.

Dann kam 1949 die Abtrennung an die Niederlande als sogenannte Grenzbegradigung und Wiedergutmachung; auch der gesamte Hellweg mit unserer Bäckerei und unserem Land gehörten dazu. Das bedeutete für alle Bewohner eine akute Existenzbedrohung. Meine Eltern hätten sich für einen Standort auf deutscher Seite entscheiden können, sie blieben aber am alten Wohn- und Arbeitsort, den sie wiederaufbauten. Der Gärtner nebenan blieb ebenfalls und baute wieder auf, auch ein Lebensmittelgeschäft, ein Metzger und ein Fahrradhändler entschieden sich zu bleiben. Ein anderer Metzger verlegte seine Produktion in den deutschen Teil von Suderwick, ebenso ein Teppichfabrikant, ein Gastwirt und die Poststelle. Am Hellweg wohnten mehrere Zollbeamtenfamilien. Sie wurden alle umgesiedelt.

Für die auswärts, in Deutschland arbeitenden Bewohner gab es Pässe und Körperkontrollen, ebenso für Kirchgänger und für den Besuch des Gymnasiums in Bocholt, jeweils zeitlich nur für diese Zwecke. Nach 1949 war es unserer Bäckerei nicht mehr möglich die deutschen Geschäfte mit Brot zu beliefern, der Rohbau auf dem 1945 zerstörten Gelände (neben der Notwohnung), konnte nicht fertiggestellt werden. Auch das restliche Personal musste entlassen werden. Es waren schwere Jahre.

Ich musste 1950 das Georgsgymnasium in Bocholt verlassen und habe bis zu meiner Heirat im November 1962 das Geschäft geführt. Unsere Mutter war kriegsbedingt – sie hatte sich in der letzten Nacht auf der Flucht aus dem brennenden Haus Verletzungen zugezogen – oft nicht einsatzfähig. Mein jüngerer Bruder machte in Bocholt seine Lehre als Bäcker und Konditor und durfte Zuhause seine praktische Prüfung ablegen, um dann bis 1957 mit Vater in der Bäckerei zu arbeiten. Dann half ihm meine jüngere Schwester. 1955 wurde der Rohbau fertiggestellt, wir verließen die Notwohnung und eröffneten das neue Geschäft.

Bei der Geschäftseröffnung am 4. August 1955 schmückten viele Blumen den Raum. In den Jahren hatte sich der Grenzverkehr gelockert und Deutsche durften einkaufen, wenn auch begrenzt und kontrolliert, Kaffee und Benzin waren Spitzenreiter.

Wie sah nun der Alltag in so einem Bäckerladen aus? Es war ja zugleich auch Konditorei und Lebensmittelvertrieb. Der Bäckermeister, also mein Vater, stand frühmorgens in seiner Backstube. Um 7 Uhr musste das Geschäft geöffnet werden, wehe, wenn das nicht pünktlich geschah. Es gab Kunden, die schon mal früher in die Backstube kamen, aber das störte dort den Arbeitsablauf. Zunächst wurden in der Frühe Brötchen gebacken, zum Wochenende drei Sorten: normale, Milch- und Rosinenbrötchen. Dann Brote, Kuchen, Plätzchen, Gebäckstücke verschiedener Art und auf Bestellung auch Torten. Am Samstag kam als letztes Schwarzbrot in den Ofen. Es wurde erst am Sonntagmorgen herausgenommen.

Im Laden musste alles sauber sein und übersichtlich eingeräumt werden. Der Großhändler aus Terborg brachte Waren, wie Ranja, Marmeladen, Honig, Konserven, Zucker (musste wie manches andere abgewogen werden), Käse, Tee, Kaffee, Neskaffee, Kakao, usw. vom Hof aus in den Vorratskeller. Dort wurde alles ausgepackt, in Regale gestellt und mit einem Korb nach oben getragen. Schokolade, Pralinen und andere Süßigkeiten kamen von anderen Lieferanten.

Wenn Plätzchen nach vorn kamen, duftete der ganze Raum. Sie hatten ihren Platz in diversen Schubkästen, Gebäckstücke in einem Glasschrank.

Es kam vor, dass man schnell ins Backhaus oder in den Keller musste, um etwas zu holen und dass der Kunde/ die Kundin dann allein im Laden war, aber der Gedanke der „Selbstbedienung“ kam eigentlich nie auf. Es war einfach Vertrauen da. Kaffee war ein großes Thema, vor allem für die „Grenzgänger“. In Deutschland eine Rarität, in Holland wohl auch noch nicht alltäglich, aber es gab ihn. (Nach dem Krieg wurden einzelne Bohnen gehandelt). Und da begann die Schmuggelei, denn es waren nur 50g (oder 30g?) erlaubt. Der niederländische Handel stellte sich auf diese Vorgabe ein und bot kleine, flache Päckchen an, sowohl von Kaffee als auch von Neskaffee. Die wiederum wurden von den Grenzgängern geschickt unter der Kleidung versteckt. Man musste mal eben zur Toilette, wie es hieß.

Das Geschäft war von morgens 7 Uhr bis abends 6 Uhr durchgehend geöffnet, freitags bis 9 Uhr, Mittwoch nachmittags geschlossen. Nach Ladenschluss war die Zeit des Auf- und Einräumens, dann Putzen, denn am nächsten Morgen begann ein neuer Arbeitstag.

Die Weihnachtszeit war stets eine besondere Herausforderung im Backhaus und im Geschäft. Große Spekulatiuskerle, Stollen, Berliner, Kerstkrans, Sauzijtjes, und und. Alles musste gebacken und verpackt werden. Die Herstellung von Marzipanfiguren übernahm in der Regel meine Mutter. Das Schaufenster bekam eine besondere Dekoration und jedes Jahr stellten wir auch eine Spieluhr hin. Darauf freuten sich die Kinder besonders. In der Zeit waren Nächte oft sehr kurz. Lang, lang ist`s her.

Nach Rückführung der Gebiete an Deutschland 1963 hatte Vater keine Kraft mehr für einen neuen Start. Ich war als Nachfolgerin ausgefallen, mein Bruder konnte aus gesundheitlichen Gründen (Bäckerallergie) nicht übernehmen. Noch ein Jahr hielt Vater durch, dann gab er auf. Auf dem Gelände der Familie Bülten befindet sich heute das "Bültenhaus" (Senioren- und Pflegehaus).

 

Jutta Brand, Suderwick, im Februar 2019

[Siehe auch den Beitrag: "Ein Panzer sammelt Spenden. Kreativer Umgang mit einer Kriegsruine in Suderwick"]

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